Geschichte

Hintergrund für die Entstehung der Blauen Karawane ist die Auflösung der psychiatrischen Langzeitklinik Kloster Blankenburg (einer Bremer Klinik, 40 km vor den Toren der Stadt) in den 1980er Jahren – ein bis heute in der BRD einmaliger Vorgang, beschlossen vom Bremer Senat. Verantwortlich für die Umsetzung war das sogenannte „Auflösungsteam“: ein Arzt, ein Psychologe, mehrere Pfleger- und Sozialarbeiter:innen, von denen einige zu den Gründungsmitgliedern der heutigen Blauen Karawane gehören.

Vorbilder dafür, wie man eine klassische Verwahranstalt auflöst, gab es nicht – außer im italienischen Triest, das in den 1970er Jahren mit der Auflösung seiner Psychiatrie Furore gemacht hatte. Aber es gab ein Ziel: die Rückkehr der Insass:innen in ihre Heimatstadt Bremen (die Klinikleitung sprach von „Rückführung“ in Bremer Kliniken und Heime).  Und es gab schon damals diese Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer Veränderung, die durch die Begegnung unterschiedlicher Menschen im realen Leben entsteht. 

Deshalb organisierte das Auflösungsteam gemeinsame Fahrten von Patient:innen und Mitarbeiter:innen nach Bremen, Besuche von Fußballspielen („Blankenburg grüßt Werder Bremen“) und dem Bremer Freimarkt und künstlerische und auf gemeinsame Projekte ausgerichtete Aktivitäten wie die Herausgabe einer eigenen Zeitung und die Planung der ersten gemeinsamen Reise nach Triest (mehr dazu im Menüpunkt BlauHaus). Schließlich sorgten die Umzüge in Häuser und Wohngemeinschaften mitten in Bremens Stadtquartieren für Anknüpfungspunkte an die eigene Lebensgeschichte, die unter den im Schnitt sechzehn Jahren Verwahrpsychiatrie für viele Blankenburger Insass:innen verschüttet war. Um diesen letzten Schritt zu ermöglichen und den geplanten Klinik- oder Heimeinweisungen seitens der Klinikleitung zuvorzukommen, war eigens ein Verein gegründet worden: die Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen e.V.

Jede:r ist wichtig, jede:r wird gebraucht

In diese Zeit des Aufbruchs aus der psychiatrischen Anstalt Kloster Blankenburg fiel die erste Blaue Karawane. Es war eine bunte Gemeinschaft von Patient:innen, Klinik-Mitarbeiter:innen, Künstler:innen und interessierten Bürger:innen, die sich 1985 von Triest aus durch neun Städte der BRD und ihre Verwahr-Psychiatrien bis hinauf nach Bremen auf den Weg machte.  Mit künstlerischen, z.T. skurrilen und provokanten Aktionen richtete sie den (öffentlichkeitswirksamen) Blick auf die unwürdige Unterbringung der Anstaltsinsass:innen und forderte eine radikale Abkehr von der Ideologie der Zwangspsychiatrie. 

Für die Teilnehmer:innen an der Blauen Karawane war die Reise ein unvergessliches Erlebnis, insbesondere für die ehemaligen Blankenburger Insass:innen, für die das Reisen selbst eine fast surreale Erfahrung war, ebenso das öffentliche Interesse und die Solidarität, die sie nach jahrelangem Leid erfuhren.

Für die Blaue Karawane war die Reise einer der Anlässe, der zu ihrem Grundsatz beitrug „Jede:r ist wichtig, jede:r wird gebraucht“: Der Karawanen-Alltag mit seinem improvisierten Leben, mit provisorischen Übernachtungen, mit der Organisation von Lebensmitteln und der gemeinsamen Zubereitung von Mahlzeiten, mit seinen spontanen Aktionen vor und in den psychiatrischen Anstalten benötigte den Einsatz von jeder:m Beteiligten und gab jeder:m Einzelnen eine spezifische Bedeutung in der Gemeinschaft, unabhängig von Status oder Funktion im „normalen“ Berufs- oder Privatleben. 

Voraussetzung dafür ist das unbedingte Vertrauen in die Aufmerksamkeit und Verlässlichkeit eines:er Jeden in der Gemeinschaft gegenüber den Anderen. Auch das unterscheidet das Leben in der Blauen Karawane bis heute von anderen organisatorischen Zusammenschlüssen. 

Die Klinikleitung in Bremen hatte ein solches Vertrauen nicht, weder in ihre Mitarbeiter:innen noch in die Patient:innen. Sie hatte die Reise verboten – zum „Schutz“ der Patient:innen. Abmahnungen und die Zerschlagung des Auflösungsteams waren die Folge.

Geht nicht, gibt’s nicht!

Nach dem Auszug der meisten Insass:innen aus Kloster Blankenburg fand sich 1986 ein neues Domizil für gemeinschaftliche Diskussionen und Aktivitäten in Bremen-Walle.  Es sollte Büroräume für den Verein „Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen“ bieten, Ateliers für das Blaumeier-Projekt, das im Vorfeld der Blauen Karawane entstanden war, und Werkstätten für diverse gemeinschaftliche Tätigkeiten.

Alle, die einen Blick auf das heruntergekommene Haus in der Travemünder Straße warfen, waren sich einig: Das geht nicht! In gemeinschaftlicher Arbeit wurde bewiesen: Es geht doch! Und nur ein Jahr später entstand sogar Raum für das Café Blau als Treffpunkt für Karawanenfreund:innen und alle Interessierten aus dem Stadtteil.

Auch so manche „blaue Aktion“ wurde zunächst mit dem Verdikt belegt: Geht nicht! Dazu gehören z.B. das dreitägige Festival „Blau ist die Farbe“ im Waller Park (der noch nie für ein solches Fest freigegeben worden war), die Reisen mit Wüna, dem blauen Kamel, auf einem Katamaran auf der Weser und anderen Gewässern (2009 sogar bis nach Berlin!) oder der Kongress „Leben 2020“ in einem Bambuszelt auf der Brache des Grundstücks für das BlauHaus (2010). Obwohl gesetzliche Vorgaben ein Verbot aller genannten Beispiele ermöglicht hätten, konnten sie ohne polizeiliche oder gerichtliche Auseinandersetzungen durchgeführt werden.

Grenzüberschreitungen

Die Geschichte der Blauen Karawane e.V. ist ohne die Sehnsucht nach Veränderung und die dafür notwendigen Grenzüberschreitungen nicht nachvollziehbar.

Im Jahr 1994 machte sich die zweite Blaue Karawane unter diesem Motto auf den Weg, zusammen mit Künstler:innen des Blaumeier-Ateliers. Die Reiseroute führte nicht zufällig über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze hinweg von Leipzig nach Bremen. Grenzüberschreitung also im doppelten Sinne: geographisch und in den ost- wie westdeutschen Köpfen.

Thematisiert wurde nicht nur die Ausgrenzung der Verrückten in den Psychiatrien. Es ging auch um die neuen Grenzen, die nach dem Fall der alten ein solidarisches Miteinander verhindern und Menschen, wie Obdachlose oder Migrant:innen zu Außenseiter:innen machen. Oft half das bunte Narrentreiben der Blauen Karawane auf den öffentlichen Plätzen mehr als die Diskussionen im geschlossenen Raum, die eigenen Grenzen im Kopf zu hinterfragen und sich auf die Begegnung mit Menschen einzulassen, die so ganz anders sind als man selbst.

Zum Glück geht es anders

… war nicht nur Thema eines Kongresses, der 2008 die öffentliche Diskussion in Bremen über das geplante BlauHaus als Alternative zu den konventionellen Formen betreuten Wohnens in Heimen und Anstalten in Gang setzte. Es war auch das Motto der vierten Blauen Karawane, die sich 2009 auf ihrem Weg von Berlin nach Bremen mit den modernen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung einerseits und den vielfältigen psycho-sozialen Angeboten andererseits beschäftigte, die Menschen in schwieriger Lage unterstützen. Mit dem Besuch von Orten der Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialist:innen richtete sie gleichzeitig den Blick darauf, wohin Stigmatisierung und Aussonderung im Extremfall führen können.

Die Doppeldeutigkeit des Mottos war beabsichtigt: Es ist gut, dass es heute viele soziale Projekte gibt, die sich um ausgegrenzte, insbesondere behinderte oder psychisch beeinträchtigte Menschen kümmern. Aber – so die Kritik der ausgrenzungserfahrenen Blauen Karawane – auch Wohngemeinschaften, Heime und Behindertenwerkstätten folgen der institutionellen Logik von „Betreuten“ und „Betreuer:innen“ und der Marktorientierung professioneller Hilfe: Denn erst wenn eine ausreichend große Zahl von zu Betreuenden „akquiriert“ wird, lohnt es sich, eine Einrichtung zu betreiben. 

Andere Wege zum Glück zu finden, als die, die gesellschaftlich vorgegeben sind, war das Ziel des o.g. Bremer Kongresses. Die Blaue Karawane war auf der Suche nach Beispielen und Expert:innenwissen, wie so unterschiedliche Menschen wie die, die sich in der Karawane versammeln, als Nachbar:innen miteinander wohnen, leben und arbeiten können. Das Expert:innenwissen war für die Blaue Karawane von großem Wert und trug zur Konkretisierung der Utopie vom gemeinschaftlichen Zusammenleben im BlauHaus bei. Beispiele dafür gab es jedoch nicht.

Für ihre beständige Suche nach Wegen, die die Gesellschaft solidarischer und bunter machen, erhielt die Blaue Karawane zusammen mit Blaumeier 2009 den Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon in Bremen, sowie den Wohnprojektpreis 2023 für das BlauHaus Projekt.

Auf die Mischung kommt es an

Unter diesem Motto zog die Blaue Karawane zog die Blaue Karawane 2013 durch Bremen-Walle.

Auf die Mischung kommt es an Bremen Walle 2013

Auch wenn die Mischung von Verrückt-Normalen und Normal-Verrückten schon immer Kennzeichen der Blauen Karawane war, erhielt das Motto in den letzten Jahren eine besondere Bedeutung: Zum einen, um die vielen Geflüchteten willkommen zu heißen, die 2015 Bremen erreichten und insbesondere in der Überseestadt in Container- und Zeltdörfern ihre erste Unterkunft fanden. Zum anderen, um das BlauHaus und die damit verbundene Vorstellung von einem lebendigen, durchmischten Stadtteil mit Witz und Wüna in die Nachbarschaft zu tragen. 

Zeittafel: Geschichte der Blaue Karawane e.V. und des BlauHaus-Projektes

1981
Der Auflösungsprozess in der Anstalt Kloster Blankenburg beginnt.

1982
Auszug der ersten Anstalts-Insass*innen in eine Bremer Wohnung. Um Patient*innen Wohnen zu ermöglichen, wird der Verein „Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen e.V.“ (im Folgenden: I.z.s.R.) zum Aufbau betreuter WG´s gegründet.

1983/1984
Bei zwei Reisen von Blankenburger*innen (Insass*innen und Personal) nach Triest entsteht eine Partnerschaft zwischen Bremen (Kloster Blankenburg) und den Servizi Psichiatrici in Triest. Bei der Rückkehr der zweiten Reise entsteht die Idee von der Blauen Karawane.

1985
Die 1. Blaue Karawane zieht von Triest nach Bremen, besucht acht psychiatrische Anstalten und endet mit dem Kongress „Gesellschaft ohne Irrenhaus“. In der Folge entsteht das Blaumeier-Atelier.

1986
Es gibt jetzt 10 WG´s für ehemalige Blankenburger*innen. Die I.z.s.R. bezieht ihr Vereins-Domizil in Bremen-Walle (Travemünder Str. 7a).

1987
Eröffnung des Café Blaus in der Travemünder Straße 7a.

1991
„Das Blaue Haus e.V,“ wird gegründet und plant und organisiert den Bau des Blauen Kamels Wüna und die Blaue Karawane 1994.

1992
Festival in Blau im Waller Park zum 10-jährigen Bestehen der I.z.s.R..

1994
Stapellauf von Wüna. Zug der 2. Blauen Karawane auf dem Wasserweg nach Bremen. Das Motto: „Grenzüberschreitungen“.

1999
Gründung der Blauen Karawanserei als Projekt der I.z.s.R..

2000
Die 3. Blaue Karawane zieht von Blankenburg (jetzt Auffanglager für Asylbewerber*innen) nach Bremen. Station u.a.: die JVA-Bremen..

2001
Planung eines Blaue-Karawanserei-Neubaus als Projekt der I.z.s.R..

2002
Die I.z.s.R. gibt das Projekt Blaue Karawanserei auf zugunsten eines Bürobaus für die Angestellten. Trennung des Projekts von der I.z.s.R. und Auszug ins Überseemuseum als Übergangsquartier. Gründung der Blaue Karawane e.V. (als Nachfolge von Das Blaue Haus e.V.).

2003
Im Juli: Einzug der Blauen Karawane in den Speicher XI.

2005
Feier zum 20-jährigen Bestehen beim Stadtteilfest am Holzhafen.

2008
Der Kongress „Zum Glück geht es anders: Zusammen Leben – Wohnen – Arbeiten. Alternativen zu Heim, Anstalt, Isolation“ ist der Auftakt der Öffentlichkeitskampagne für das Projekt BlauHaus.

2009
Zug der 4. Blauen Karawane von Berlin nach Bremen. Motto: „Zum Glück geht es anders“. Inhalte: gesellschaftliche Problemlagen in Vergangenheit und Gegenwart (T4-Aktion im 3. Reich, Sozialabbau, Anstaltspsychiatrie, gesunde / krankmachende Arbeitsbedingungen).

Die Blaue Karawane erhält zusammen mit Blaumeier den Bremer Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon.

2010
Kongress „Leben 2020“
in einem Bambuszelt auf der „B(l)austelle“ zum 25-jährigen Jubiläum. Thema: Entwicklung der Blauen Karawane seit der Auflösung von Kloster Blankenburg bis zum Projekt BlauHaus. Referenten: u.a. Bremens Bausenator Dr. Loske und der Experte für sozialräumliches Arbeiten, Prof. Früchtel, Universität Potsdam.

2012
Präsentation des BlauHaus-Modells bei der Breminale: Das Modell aus Legosteinen ist ein Highlight für Erwachsene und Kinder.

2013
Mit der Blauen Karawane zum „Golden City“ – ein Zug durch Walle mit dem Kamel Wüna und acht Krankenhaus-Betten. Motto: „Auf die Mischung kommt es an!“

2014
Besuch in Geesthacht, um die Umwandlung der Bettenpsychiatrie in eine ambulante Versorgung mit Regionalbudget kennenzulernen.

2015
Gemeinsames Fest mit Geflüchteten im Roten (Container-) Dorf.

Zu der Aktion „Wüsten zu Gärten“ auf der „B(l)austelle“ des BlauHauses sind die Nachbar*innen aus der Überseestadt eingeladen, mit zu feiern und die Blaue Karawane kennenzulernen.

2016
Die Blaue Karawane erhält den Förderpreis der Stiftung für Soziale Psychiatrie und feiert dies mit einer Tagung. Themen: „Die Bremer Sozialpsychiatrie: Barrieren überwinden“ und „Das BlauHaus an der Hafenkante – ein Quartier für eine barrierefreie Stadt“.

Filmprojekt „All inclusive“ zusammen mit Eike Besuden.

2017
Das Konzept für eine psychiatrische Versorgung psychisch kranker Menschen am Beispiel Bremen-West wird zusammen mit der GAPSY und den Eingliederungshilfeträgern des Bremer Westens veröffentlicht und erhält große Zustimmung auf breiter Ebene.

2019
Die Bewohner*innen ziehen ein ins BlauHaus

2020
1. Fachtag Psychiatrie: Das Krisenhaus und die ersten Schritte zum Zentrum für seelische Gesundheit. Mit dieser Tagung will die Blaue Karawane ein Zeichen setzen für die Transformation der zentralisierten, stationär ausgerichteten Krankenhauspsychiatrie in eine regionale ambulante Versorgung. Vor ca. 100 Teilnehmer*innen kündigt die Gesundheitssenatorin in ihrer Begrüßungsrede an, dass die Transformation jetzt mit konkreten Schritten umgesetzt werden soll.

Umzug der Blauen Karawane aus dem Speicher XI in die Blaue Manege des BlauHaus-Quartiers im November.

2021
Der 2. Fachtag Psychiatrie (Transformation von stationär zu ambulant – die zukünftige regionale psychiatrische Versorgung im Bremer Westen) sorgt für Aufbruchstimmung. Die Sozialsenatorin und der neue Chefarzt der Psychiatrie des Klinikums Bremen-Ost sprechen sich klar für die Umsetzung des West-Konzeptes aus.